Der Antwerpener Passionsaltar in der Wiener Votivkirche

Der Antwerpener Passionsaltar gilt als das bedeutendste erhaltene Schnitzwerk mit originaler Polychromie (= farbige Fassung) aus der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts. Sämtliche Skulpturen sind originale spätgotische Schnitzereien, desgleichen die landschaftlich gestalteten Reliefs und die beiden größeren architektonisch gestalteten Baldachine über dem linken und dem rechten Relief. Der Sockel, sowie der mittlere Baldachin und die ornamentalen Rückwände und schließlich auch die Heilig-Grab-Nische im rechten Relief ganz rechts sind maßvolle Ergänzungsarbeiten von Hans Gasser um 1879, die bereits auf die Aufstellung in der Votivkirche abgestimmt sind.

Der Altar gelangte nach mehrmaligem Besitzerwechsel in das Eigentum des auch in der Votivkirche tätigen Bildhauers Hans Gasser, aus dem ihn Kaiser Franz Joseph für die Ambraser Kunst- und Wunderkammer durch Ankauf 1858 erstand. Aufgrund des Ersuchens des damaligen Wiener Erzbischofs, Othmar Kardinal Rauscher (dem vormaligen Erzieher des Kaisers) wurde der Altar vom Kaiser der Votivkirche geschenkt und von Hans Gasser die Ergänzungen durchgeführt. Der Altar wurde in den Sechzigerjahren des 20. Jahrhunderts in den Werkstätten des Bundesdenkmalamtes im Arsenal in Wien untersucht und restauriert (durchgeführt von Giovanna Zehetmaier), nachdem 1956 vier vollplastische Figuren gestohlen worden waren. (Veronika mit dem Schweißtuch im linken Relief der Kreuztragungsszene, Joseph von Arimathia, Nikodemus und Maria Salome im rechten Beweinungsrelief) und durch erfolgreiche Erhebungen der Interpol wieder in situ gebracht werden konnten. Außer Nikodemus wurden bald nach der Vollendung der Restaurierung (1966) die selben Figuren neuerlich gestohlen (1970) und sind seither verschollen. Aus Sicherheitsgründen sowie aus konservatorischen Überlegungen war der Altar von 1986 bis 2000 an das Dom- und Diözesanmuseum unter der Bedingung geliehen gewesen, daß die Leihfrist mit der Auffindung eines endgültig geeigneten Aufstellungsortes in der Votivkirche ende. Dies ist mit der Installation des Museums in der Votivkirche im ehemaligen Hoforatorium oberhalb des Chorumganges erfolgt.

Schon allein der Erhaltungszustand dieses Werkes ist ein Phänomen für sich: gilt er doch neben dem Znaimer Altar aus der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts (Österreichische Galerie Belvedere) als das bedeutendste geschnitzte polychromierte (= farbig gefaßte) Bildwerk, das erhalten geblieben ist. Tatsächlich ist diese Polychromierung nicht nur ob ihres malerischen Erscheinungsbildes dem Niveau der damaligen Tafelmalerei absolut als gleichwertig zu bezeichnen, sondern zur effektvollen Steigerung derselben sind hochwertige Materialangaben eingesetzt worden: die Schmuckmotive in den Kostümen sind durch vergoldete, in Wachsverbindungen gefestigte Bleihalbkügelchen ebenso in ihrer malerischen Wirkung fördernde Maßnahmen wie die Vergoldung der Felsen, um solcherart den Sonnenreflex auf dem Gestein zu signalisieren. Die seitlichen (größeren) Baldachine sind Musterbeispiele der spätgotischen Architektur-Modelle, wobei ihre "Schlußsteine" als vergoldete Bleiapplikationen gearbeitet sind. Dieser "Luxus" in der materiellen Ausführung ist jedoch nicht Ausdruck einer Hypertrophie, sondern versteht sich als Transformationsfaktor im skulpturalen Medium zugunsten der authentischen Vermittlung spezifisch malerischer Bildresultate.

Zu diesen singulären formalen Werten gesellt sich die noch bedeutungsvollere spezifisch kunsthistorische Bedeutung dieses Bildwerkes, dessen Sockel, ornamentierte vergoldete Rückwände und der Mittelbaldachin als exemplarisch gelungene Adaptierungsarbeiten des l9. Jahrhunderts von Hans Gasser angesprochen werden müssen; die Probe auf das Exempel hiezu läßt sich in der Rekonstruktion des Heilig-Grab-Felsens im rechten Relief erkennen. Eben die kunsthistorische Komponente läßt eine authentische Vorstellung von jenen ehemals gemalten Bildwerken erkennen, die mit den Stilkriterien des Hauptmeisters des Turiner Gebetbuches, alias Hubert van Eyck, in allerengster Beziehung stehen: Das mittlere Relief mit den Darstellungen der Kreuzannagelung und der Kreuzigung Christi ist kompositionell eine Paraphrase der Kreuzigungs-Darstellung des New Yorker Diptychons des Hubert van Eyck (Metropolitan Museum), die Kreuztragung im linken Relief entspricht der auf Hubert van Eyck zurückgehenden und bis zu Pieter Brueghel den älteren führenden Darstellungstradition noch wesentlich enger und ist eine authentische Übersetzung in die Plastik reliefhafter Wirkung, obwohl namentlich die Figuren im Vorder- und Mittelgrund vollplastische Darstellungen sind. Der hochliegende Horizont und die gegen den Betrachter in die projektive Ebene geklappte Zone des Ambientes als "Bildtapete" und deren figurale Komposition entspricht der stilistischen Gesinnung Hubert van Eycks ebenso wie die Tendenz zu expressiven Physiognomien und der in den Detailrealismen überreichen Textur. Desgleichen ist das rechte Relief mit der simultanen Darstellung der Kreuzabnahme im Mittelgrund und der Beweinung Christi im Vordergrund von auffallend verwandten Gestaltungskriterien gekennzeichnet, sogar eine kontinuierlich betrachtende "Lesbarkeit" aller drei Reliefs manifestiert sich in dem über alle drei Szenen in gleicher Höhe sich hinziehenden hochliegenden Horizont. Gerade beim rechten Relief ist der narrative (=erzählerische) Bildgedanke durch zuständliche (also meditative und kontemplative) Momente in der Beweinungsgruppe bereichert, worin sich eine von Jan van Eyck nachhaltig geprägte Bildauffassung manifestiert. Die expressive Gebärdensprache und das leuchtende Kolorit, sowie die Pracht der Gewänder erweisen sich als eine zur gleichzeitig in der Malerei von Rogier van der Weyden (= Roger de la Pasture) tonangebenden ästhetischen Gestaltungsgesinnung eng verwandt. Somit steht dieses Schnitzwerk nicht nur auf der Entwicklungsstufe der Zeit hinsichtlich der malerischen Auffassung, sondern ist auch ein singuläres Meisterwerk in der Umsetzung in die bildhauerischen Darstellungsmöglichkeiten, die tale quale der Malerei entsprechen. Außerdem eröffnet dieser Altar den Reigen der überreich ausgestalteten Antwerpener Schnitzaltäre, die ihren größten Entfaltungsreichtum um 1500 und im frühen 16. ]ahrhundert erlebten und geradezu in industrieartigem Produktionsreichtum hergestellt und exportiert worden sind. Dieser Antwerpener Altar der Votivkirche kann gerade hinsichtlich seines unikalen künstlerischen Ranges und seinem illustren kunsthistorischen Stellenwert den höchsten Rang in seinem Genre beanspruchen. Aufgrund der Ähnlichkeit des Kreuzigungs-Reliefs zu einem um 1460 entstandenen Relief in Brüssel und eingedenk der unmittelbaren Abfolge zur Schaffung der Kreuztragungs und Beweinungsreliefs aufgrund der Punzen ist daher eine Datierung dieses Altarwerkes um 1460 naheliegend, was auch durch den Stilcharakter der originalen seitlichen Baldachine in ihrer Eigenschaft im Rang von Architekturmodellen Bestätigung erfährt.

Dr. Arthur Saliger
(Österreichische Galerie Belvedere und Kurator des Museums in der Votivkirche)